futursonanz

View Original

Ästhetik und Anästhesie

Ästhetik und Anästhesie, wie passen denn diese beiden Begriffe zusammen? Das eine hat doch was mit Kunst zu tun, das andere mit Betäubung im Krankenhaus vor einer OP.

Angelehnt an Shelly Sacks möchte ich es wagen, ihre Gedanken wiederzugeben und auszubreiten, warum es lohnenswert ist, die beiden Worte zusammenzubringen:

Meist verwendet man “ästhetisch” für “geschmackvoll”, “stilvoll” oder auch “künstlerisch”. Im Ursprung aber meint das griechische aisthetikos “wahrnehmend”.

Von dieser Bedeutung aus können wir Ästhetik neu verstehen und definieren als das Gegenteil von “Anästhesie” oder “Betäubung" - als etwas, das mit verlebendigtem Sein zu tun hat.

Damit lässt sich das Ästhetische aus dem begrenzten Bereich der Kunst herausholen und dem gesellschaftlichen Leben zuführen.

Das sind sehr komprimiert ihre Kerngedanken. Darauf gestoßen bin ich, als ich nach einem Gespräch darüber nachgedacht habe, wie Kunst, Kultur und Philosophie (und Unternehmensgrundsätze) zusammenhängen.

Joseph Beuys, deren Schülerin Shelly Sacks war, hat mit seinem erweiterten Kunstbegriff davon gesprochen, dass jeder Mensch ein Künstler sei. Dabei formt sich die soziale Plastik (also der Werkstoff des Künstlers) durch und zwischen den Beziehungen von Menschen um Neues entstehen zu lassen. Das Schöpferische geht also unmittelbar aus uns Menschen hervor.

Der dm Gründer Götz Werner hat häufig einen sehr ähnlichen Satz verwendet: Jeder Mensch ein Unternehmer.

Was jedem Menschen das Potential zuschreibt “eigenständig im Sinne des Ganzen zu handeln”.

Mit meiner dm Vergangenheit und Gegenwart und meinem Hang zur Philosophie lag der Schluss nahe, beides gleichzusetzen und zu schauen was dabei herauskommt.

Jeder Mensch ein Unternehmer = Jeder Mensch ein Künstler

Unternehmer = Künstler

Unternehmertum = Lebendigkeit

Kraft seiner Vorstellungskraft, einem Blick für Potentialität (und einem gewissen marktwirtschaftlichem Verständnis) schöpft der Unternehmer etwas Neues im Beuys’schen Sinne. Erschafft er durch eine nicht-sichtbare-Plastik etwas in der Realität (und verkauft damit im Werner’schen Falle Zahnpasta).

Kunst ist der ästhetische Ausdruck einer Kultur.

Kunst lässt Menschen einer Kultur dabei selbst wahrnehmen (aisthetikos) was ist, was nicht gut ist, was noch nicht ist, was sein kann. Der Erkenntnisprozess, was man dabei mit der Kunst anzufangen hat, liegt dabei jeweils beim Individuum. Im Gegensatz zur Philosophie (oder genauer Dogmen) erhebt die Kunst keinen Deutungsanspruch, sondern überlässt diesen dem Betrachter.

Kultur das lebendige durch-einander von Menschen.

Und ist damit niemals vollständig erfassbar, vollständig strukturierbar, weil sie immer aus dem aktuellen Beziehungs-, Glaubens-, und Wertegeflecht der Menschen besteht.

Weiter herrscht da, wo keine Kunst ist, wo kein schöpferisches Unternehmertum ist, wo keine Lebendigkeit ist, eine Anästhesie, eine Kultur der Betäubung. Oder mit Hartmut Rosa: eine Beziehung der Beziehungslosigkeit, eine Entfremdung, es gibt nichts was lebt (oder leben darf), wahrnehmen kann oder resonanzfähig ist.

Da bei der Betrachtung von Werner und Beuys jeweils der Mensch im Mittelpunkt steht, lässt sich daraus ein Handlungsimperativ für jeden von uns formulieren:

Es kommt auf jeden Einzelnen an, schöpferisch (im Sinne einer ästhetischen Praxis) und unternehmerisch (eigenständig im Sinne des Ganzen) zu handeln. Wenn wir eine Anästhesie verspüren liegt es zuerst an uns, eine Lebendigkeit zu entfalten.


Quellen:

  • Die rote Blume - Ästhetische Praxis in Zeiten des Wandels, Shelly Sacks & Hildegard Kurt, thinkOya

  • Unverfügbarkeit, Hartmut Rosa, Suhrkamp

  • Womit ich nie gerechnet habe, Götz Werner, Econ